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An der Mole

An denselben Ort über Jahre erneut zurückzukommen heißt das Unveränderte, Vertraute wieder anzutreffen, die Sehnsucht zu stillen, dass etwas fortbesteht, wie man es einst erlebt hat. Es bedeutet jedoch ebenso mögliche Veränderungen wahrzunehmen. So kann die Rückkehr große Wiedersehensfreude bedeuten, Schatten von Melancholie werfen oder herbe Enttäuschung bringen. Am liebsten ist es einem, wenn sich möglichst wenig verändert hat, das Schutz- und Geborgenheitsgefühl ist dann am größten. Man kann sich fallen lassen in die Hoffnung, dass es Dinge gibt, die einfach so bleiben, wie man sie in Erinnerung hat.

Doch wohin kann man nach Jahren zurückkehren und nichts ist anders?

Da ist die Mole im Meer, auf der ich mit meinem kleinen Kind an der Hand entlangging, die Fische im Wasser von oben inspizierte, vorsichtig einige Felsen überwand, jedes Jahr ein Stückchen weiter bis wir irgendwann am Ende landeten. Jahre später stolzierte die erwachsene junge schöne Frau im Bikini neben mir. Die Mole war gleich geblieben, die Gewohnheiten der Menschen an diesem Ort ebenso, nur die Menschen selbst waren andere.

Die Jungen aus dem Ort zelebrieren heute wie damals dieselben Rituale. Sie führen ihre Wasserbomben, Saltos, Köpper vor, versuchen sich gegenseitig zu überbieten, belehren sich, erfinden immer neue gewagtere Sprünge, ermuntern sich oder lachen sich einfach aus. Ihre Frisuren sind andere geworden, selbst die 11-12jährigen sind auf dem aktuellen Stand, sie tragen den Hinterkopf fast kahl rasiert und nach vorn das volle Haar. Ich komme nicht umhin, dass mir diese Haarschnitte missfallen, fast wehtun. Warum tut man den schönen Haaren das an? Es sieht aus wie eine Bestrafung oder eine verlorene Wette.

Wenige Meter von der Sprungstelle entfernt standen früher die alten Männer mit ihren Angeln im Meer. Wirklich zu fangen gab es hier nichts, aber sie blieben Stunde um Stunde auf der Mole und knüpperten ihre Köder an die Angel. Es schien nicht um das Fangen von Fischen zu gehen, vielleicht hatten sie einen Zipfel Zeit an ihren Schnüren und hielten sie stoisch ins Wasser, damit sie ihnen nichts anhaben konnte.

Heute nach Jahrzehnten der Beobachtung dieses männlichen Rituals sehe ich zwei ältere Damen mit ihren Angeln an derselben Stelle stehen. Mit Grandesse, schmucken Espadrillos, und elegantem Sonnenhut manövrieren sie ihre Angeln. Unter einer Plastiktüte, deren Henkel im Wind flattern, sehe ich eine Schale mit vielen kleinen Weißbrotstückchen. Sie müssten bis morgen früh hier stehen, wenn sie das alles an ihre Angeln binden wollten.  Ihnen geht es wohl ebenso mehr um das Verweilen in Wind und Sonne als um den Fang.

Ein Betonstuhl steht in diesem Jahr am Ende der Mole, das ist die weitere Neuheit. Ich sitze hier, selbst in die Jahre gekommen, bequemer als am Rande der Mole auf den Steinen. An manchen Tagen gehe ich in die Knie, richte mich hier unten ein, lasse die Beine Richtung Wasser baumeln, manchmal schafft es eine heftigere Welle sie nass zu machen. Das Erheben von hier klappt noch mühelos. Irgendwann werde ich nur mehr den Stuhl nutzen können, um dem Meer zu lauschen, den Wellen beim Tanz oder der Siesta zuzusehen, in den Himmel zu starren, der Zeitlosigkeit genügsam entgegenzulachen. Auf Krücken möchte ich hier irgendwann entlanggehen oder gestützt am Arm eines geliebten Menschen. Hauptsache die Mole bleibt. Das Meer sowieso.

Puerto Pollença, Mallorca, September 2021